Albert Bierstadt: Valley of the Yosemite (1864)

The Dawn Wall — Durch die Wand

Filmkritik


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21. April 2020 • Autor: red.


Trotz klirrender Kälte versammeln sich im Januar 2015 unzählige Schaulustige am Fuße des El Capitan (2307m) im Yosemite Nationalpark und richten ihre Blicke auf zwei winzige Figuren im Fels. Es sind Tommy Caldwell und Kevin Jorgeson, zwei Ausnahmekletterer, die gerade das Unmögliche versuchen: die erste Begehung der Dawn Wall — einer 1000 Meter hohen Granitwand, die noch nie zuvor durchstiegen wurde. Die Dokumentation The Dawn Wall (dt. Durch die Wand) widmet sich dem mitreißenden Bigwall-Projekt des sympathischen Duos.

Nachdem sein Vater ihn im Alter von sechs Jahren zum ersten Mal zum Klettern in den Yosemite Nationalpark mitnimmt, entwickelt sich Tommy Caldwell schnell zu einem Ausnahmetalent. Im Alter von 16 Jahren gewinnt er als Außenseiter direkt seine erste Klettermeisterschaft. Es folgen zahlreiche Meilensteine im Yosemite Nationalpark.

Doch dann, im Jahr 2000, nimmt Caldwells Leben eine unvorhergesehene Wendung. Bei einer Expedition in Kirgisistan werden Caldwell und seine Kletterpartner von bewaffneten Rebellen entführt. Erst nach sechs Tagen können sich die Expeditionsmitglieder in einem dramatischen Moment aus der Gefangenschaft befreien.

Caldwell, den die Geiselhaft verändert hat, versucht die traumatischen Geschehnisse in den Bergen zu verarbeiten. Doch schon bald ereilt ihn der nächste Schicksalsschlag. Bei einem Arbeitsunfall verliert er einen Zeigefinger. Sein Arzt empfiehlt ihm daraufhin, sich am besten nach einer neuen Karriere umzusehen.

Doch Caldwell lässt sich nicht unterkriegen. Statt auf das Klettern zu verzichten, treibt er sich zu immer neuen Höchstleistungen an. Innerhalb der nächsten fünf Jahre durchsteigt er alle bis dato erschlossenen Routen am El Capitan (2307m) und geht schließlich dazu über, seine eigenen Routen in die Geschichtsbücher einzutragen. Caldwell wird zum größten Bigwall-Kletterer aller Zeiten.

Im Jahr 2008 fällt sein Blick schließlich auf die Dawn Wall. So unnahbar, so abweisend erscheint die 1000 Meter hohe Granitwand, dass niemand je ernsthaft eine Durchsteigung in Erwägung gezogen hat. Doch Caldwell, der nach der schmerzlichen Trennung von seiner Frau nach etwas Ablenkung sucht, glaubt an das Unmögliche.

Auf eigene Faust fängt er an, die Wand zu erkunden, Schwachstellen im Fels zu suchen, und mögliche Routen auszuloten. Über ein Jahr zieht sich dieser Prozess hin, dann ist Caldwell überzeugt, dass die Begehung der Dawn Wall möglich ist — allerdings nicht ohne Partner. Diesen findet er dank einer glücklichen Fügung in Kevin Jorgeson.

Jorgeson, der sich vor allem in der Boulder-Welt einen Namen gemacht hat, ist ein Novize, wenn es um das Bigwall-Klettern geht. Doch er sucht nach einer neuen Herausforderung, und tritt daher mit Caldwell in Kontakt. Schon bald sind beide ein eingespieltes Team.

Sechs Jahre lang kehren Caldwell und Jorgeson immer wieder zum El Capitan (2307m) zurück, um jede Ecke, jeden Winkel der Wand zu studieren und nach Lösungen für die außergewöhnlich schweren Seillängen zu suchen. Sie kämpfen mit Steinschlag und Stürmen, Stürzen und Verletzungen. So verwegen erscheint Caldwell und Jorgesons Traum, dass Yosemite-Veteranen wie John Long die beiden für Wunschträumer halten.


I always thought it was futile. This is a pipedream, man, come on!

— John Long: The Dawn Wall


Wie Jorgeson später gesteht, war er sich zeitweise selbst nicht sicher, ob sie an der Wand nicht nur ihre Zeit vergeudeten. Doch für Caldwell geht es um alles oder nichts. Er hat sich der Wand verschrieben, ist von ihr geradezu besessen.

Im Dezember 2014 wird es dann ernst. Das Zweigespann steigt in die Wand ein. Die ersten Seillängen sind leicht, und Caldwell und Jorgeson kommen schnell voran. Wie entfesselt lassen sie eine Seillänge nach der anderen unter sich. Sie klettern mit ihren Stirnlampen bis in die Dunkelheit hinein und verbringen ihre Nächte biwakierend in der Wand.

Nach acht Tagen haben sie bereits die halbe Wand durchstiegen. Doch dann erwartet sie mit Pitch 15 — »The Traverse« — die Schlüsselstelle der Tour. Über die Jahre haben Caldwell und Jorgeson diese Passage tausend Mal probiert, jedoch immer vergeblich. Nun muss es klappen! Abwechselnd versuchen sie sich an der Traverse, die Fingerkuppen auf kleinste Griffe gepresst, die Füße über Kreuz geschlagen. Erst nach mehreren Anläufen gelingt es Caldwell schließlich mit einer bis ins Detail einchoreografierten Bewegungsabfolge die Schlüsselstelle zu überwinden. Zum ersten Mal erscheint die Durchsteigung der Dawn Wall greifbar.

Während Caldwell weiter nach oben strebt, hadert Jorgeson mit Pitch 15. Über Tage hinweg versucht er vergeblich die Traverse zu meistern, Sturz um Sturz, bis seine Fingerkuppen bluten. Nach fünf Tage ohne Fortschritt macht sich Resignation breit. Caldwell hat unterdessen den »Wino Tower« (Pitch 20) erreicht, der das Ende der schwersten Kletterei markiert. In einem bewegenden Moment sehen wir Caldwell euphorisch vom »Wino Tower« herunterjubeln, während Jorgeson — den Blick sehnsüchtig nach oben gerichtet — allein in der Dunkelheit der Wand zurückbleibt. Die Dawn Wall droht die sympathische Seilschaft auseinanderzureißen.


I could never tell if we were wasting our time, or if we were in pursuit of something grand.

— Kevin Jorgeson: The Dawn Wall


Mit The Dawn Wall haben Josh Lowell und Peter Mortimer eine eindrucksvolle Bigwall-Dokumentation geschaffen, die sich vor genre-ähnlichen Produktionen wie Free Solo keineswegs verstecken muss. Sorgfältig verweben die beiden Filmemacher atemberaubende Kletteraufnahmen, altes Archivmaterial, und Interviews von Caldwell, Jorgeson und ihren Wegbegleitern zu einem rundum gelungenen Narrativ über Widerstandsfähigkeit, Besessenheit, aber vor allem über den Wert von Kameradschaft.

Titel: The Dawn Wall – Durch die Wand • Spielzeit: 101 Minuten • Freigabe: ab 6 Jahren • Release: 2017